HAFTHAUS zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit

Theater vor Ort
Zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit

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Katrin Schwingel, Matthias Zahlbaum

HAFTHAUS
am 2. und  3. Oktober 2015 in der Gedenkstätte Lindenstraße 54/55, Potsdam – mehr unter TERMINE

“Am Ende jeder Haftwoche gab es ein Blatt zum Schreiben eines Briefes, ein Kuvert und einen Stift. Zur Schreibstunde ordnungsgemäß verteilt wie einst in Schule und Unterricht, als Schuld und Unschuld noch fernste Begriffe waren. Die Wächter gingen mit einem Block durch die Etagen, öffneten die Luken in den Zellentüren, hörbar durch das Klicken der von außen angebrachten Verriegelung und das Gepolter der eisernen Klappen. Tagelang sahen wir durch diese Luken nur die Arme unserer Bewacher, die wir mit der Zeit an der Behaarung, an ihren Ringen und Uhren zu unterscheiden lernten. Ihre Hände rissen das Briefpapier blattweise von großen Blöcken und schoben pro Häftling ein Blatt, einen Stift und ein Kuvert in die Zellen. Später fielen mit blechernem Klack kleine Signalklappen, mit denen man den Wächtern einen Wunsch oder Not signalisieren konnte. Ob und wann sie darauf reagierten, blieb ungewiss, man konnte getrost und in Ruhe verrecken.

In den nächsten Stunden war es im Hafthaus friedlich und still, wie eben manchmal ganz früher in der Schule, andachtsvoll wie in der Kirche. Das fortwährende Rufen, Schreien und Befehlen, selbst das Knallen der Schlüssel und Türen unterblieb. Es begann die heilige Messe der Strafgefangenen. Jeder mit einem Stift über sein Blatt Papier gebeugt, neben sich den letzten erhaltenen Brief als Voraussetzung für den nun geführten stillen Dialog, zu hören nur das Kratzen von Kugelschreibern über billigem Papier.

Wie war es möglich, in einer Zelle zu sitzen und Briefe zu schreiben als die einzigen Fenster nach draußen, in denen man sein Innerstes öffnet, sich öffnen muss, um die uns umgebenden Mauern für andere durchlässiger zu machen? Und sich gleichzeitig vorzustellen, wer die geöffneten und doch so intimen Briefe mitliest und kontrolliert, jeden Liebesschwur, jede Verzweiflungsgeste auswertet und als Grundlage der nächsten Schlachtpläne dem Untersuchungsverfahren dienlich macht.

Auf diese Frage gibt es keine Antwort.”

aus: Ralf-G. Krolkiewicz
HAFTHAUS – Ein Bericht unter Verwendung authentischer Briefe entstand 2000 und wurde 2003 vom Märkischen Verlag Wilhelmshorst herausgegeben.